"jedem Abend ein Gedicht"

febrero 05, 2011

Der 27 Juli letztes Jahres war ein Dienstag. An einem Tag wie diesem kam ich vor dreizehn Jahren in Berlin an. Es war im Sommer und ich dachte in 2010 alle Monate daran. Inzwischen ist es ein wahrer Jahrestag geworden, der Tag meiner Heiligen nach Tradition der Spanier, die ihre Kinder nach der Heiligen nennen, an deren Tag sie geboren werden. Ich suche in Google und finde 22 Möglichkeiten. Wenn ich gläubig wäre, müsste ich mir als Namen ein Pseudonym wie Antusa, Bartolda oder Celestina einfallen lassen. Wobei der offizielle Name ist Pantaleon, ein Märtyrer aus dem dreizehnten Jahrhundert. Der Name ist griechisch und bedeutet: "der mann, der über alles herrscht, was geschrieben steht". Es geht darum und warum denn dann nicht: Rery Pantaleona, die bin ich und fange an zu erzählen.

Das erste Mal, als ich eine kurze Erzählung von Borges las, war ich 18. Ich habe noch das Buch, oder die Bücher: Zwei Bände mit den gesamten Ausgaben, vom EMECE in Mexico 1989 veröffentlicht. Ich liebe diese Bücher und seit dem ich sie habe, schleppe ich sie überall hin mit. Ich habe sie nie geliehen und wenn ich mich auf die Flucht mache, sind sie die ersten Objekte, die in meinem Rucksack Platz nehmen. Sie sind mein kostbarstes Eigentum und mir so nah, dass wenn ich nicht mehr weiß, wo oben und unten ist und ich dringend nach Hause zurück müsste, weil ein sicherer Spiegel Not täte, es meistens reicht zum Buchregal zu gehen. Ohne Georgie hätte Pantaleona nie existiert. Meine Odyssee wurde im "Spiegel des Rätsels" erdacht und hat sich als bescheidender Remix von Gullivers Reisen mit einer Dosis schwarze Humor und einem Hauch von Krimi entsponnen.

An 2010 beunruhigte mich, dass es eine runde Zahl ist: Wirkungsstark - der Schluss des ersten Jahrzehnts des XXI Jahrhunderts. Ich habe diese Befürchtung: Ab dieses Jahr wird meine Geschichte endgültig eine des letzten Jahrhunderts sein, daher mache ich den Schritt es mit Deutsch zu versuchen. Jedes Mal, wenn ich den Blick über meiner Tastatur erhebe, sehe ich den Band "Bolivien in seinem ersten Jahrhundert Unabhängigkeit", den ich besitze. An der Größe des Buches und wegen seines Gewichtes merkt man den Verfolgungswahn einer Gesellschaft in den 25 Minuten ihrer Glanzzeit. Es ist in den wenigen Jahren entstanden, die Bolivien als Großmacht in Südamerika galt. Es ist der Crash des Hochmuts der Grille jener, die an Zivilisation wie im Westen glaubten, kartoniert in handgearbeitetem Leder und gedruckt auf das beste Papier. Ich habe das Buch seit 2005: Eines von tausend Exemplaren. Die stolze Besitzerin dieses fünf Kilo schweren Teils der Geschichte zu sein, hat mich in Laufe der Zeit zu einer prekären Sesshaftigkeit gezwungen. Seit 2008 ist mein Ziel, nicht mehr als einen Kubikmeter Eigentum zu haben. Das mindest Notwendige bei einem Umzug per Schiff und die 400 Euro, die ich immer geliehen bekommen werde.

Nach der Kabbala addiert und subtrahiert - ich bin längst keine Expertin -war 2010 ein Jahr der Zwölf: Das heißt von Apostolat und Verbreitung. Die Nummer Dreizehn an sich - all die Jahre, die ich in Deutschland bin - bedeutet ein Jahr von Tod und Wiedergeburt, von tief greifender Verwandlung und Umwandlung. Sie entspricht auch der Anzahl der eingeladenen Gäste im Abendmahl. Ich bin letzten Dezember 33 Jahre alt geworden, wahrscheinlich habe ich alle diese Verbindungen festgestellt, weil eine Verrückte den Papst am Heiligabend vorletzten Jahres gestürzt hat. Am 25. Dezember 2009 verkauften alle Zeitungsständer in Madrid diese Nachrichten neben einer billigen Ausgabe von "Die permanente Revolution" von Trotzki.

Ich bin geboren in einem Jahr der Neun, der Nummer, die über die neunte Sphäre regiert, der des Sexes und sexuellen Verwandlung. Ich nutze meinem Schnurrbart seit Mitte 2009, noch bevor ich das wusste. Das Buch, an dem ich seit zwei Jahren arbeite, beschäftigt sich genau mit diesem Thema. Ich versuche dabei ein Selbstportrait: Die Frau hinter der Frau, die eine andere Frau träumte und warum viele Bücher, die man als männliche Literatur bezeichnen könnte, so wichtig für die Wahrnehmung meiner Menschenrechte sind. Ich bin ein leichtes Mädchen, in viele Hinsichten und ich habe 2007 angefangen, an dem Buch zu arbeiten, auch ein Jahr der Neun, als ich als Aufpasser einer Kunstausstellung am Potsdamer Platz arbeitete. Es handelte sich um einen heimtückischen Sonderverkauf von einer sehr renommierten Kunstgalerie. Ihre Hauptattraktion waren Arbeiten der erotischen Werke von Georg Grosz. Wir arbeiteten in 12-stündigen Schichten. Es gab zwei Sorten von Arbeitern: Die brotlosen Künstler und die Bodybuilder, die sich um die Sicherheit zu kümmern hatten, aber vor allem darum, die Anderen zu foltern. Das war auch im Sommer, der Blick hing über Stunden an einem Bild, alle Bilder gehörten zum Expressionismus, der Schwerpunkt waren die Jahren zwischen den Kriegen und späte Arbeiten mancher Überlebender. Viel Schmerz und Ironie, Sarkasmus, Sadismus und Schönheit. In der Pausen war die einzige stille Ecke unten ein Wachturm der DDR, von Touristen verlassen , in der Ema- Berger- Str. Dort habe ich Bataille kennen gelernt, dort habe ich Bakunin und Sartre gelesen und da traf ich auch auf Jörg Fauser, dann hat es bei mir angefangen mit dem Fieber und der Kraft, nur von "jedem Abend ein Gedicht" zu leben und irgendwie war da auf einmal tiefer Frieden mit Deutschland. Viele der Ideen, die den letzten 27. Juli begleiteten, nahmen dort endgültig Form an. Als hätte ich dabei meine Staatsangehörigkeit mühsam ergattert und wäre mein falsches Deutsch jetzt Bestandteil meiner Haut, ein Teil des Schicksals, genau wie bei allen anderen Arbeitern - Inländern und Ausländern - damals um mich: Ein seltsam zeitloses, ein ortloses Gefühl.

Dieses 2010 von Tod und Verwandlung hat mir bestätigt, dass die wahre Revolution nur individuell sein kann. Vielleicht sind deswegen die zwei großen politischen Attentate, die sich unsere Kultur seit 2009 erlaubt hat, von psychisch Kranken verübt worden. Das blutende Gesicht von Berlusconi kann man nur als surrealistisch bezeichnen. Es gab Zeiten, in denen, was wir heute als verrückt bezeichnen würden, anders wahrgenommen wurde. Wissenschaft ist nur eine Gattung mehr der Fiktion, wie Borges sagt und Verrückte sind nur diejenigen, die ihr eigenes Leben nie in Frage stellen, die wortlos eine soziale Schicht annehmen und ihrer Erziehung blind folgen: Diejenigen, die bequeme Texte schreiben über ihr eigenes bequemes Dasein.

Nein ich wollte nie so ein barockes Leben führen, ich habe eine Vorliebe für Matrosentexte und verrauchte Kneipen, für reißende Romanen, wie die von Joseph Conrad, Schicksal bestimmende Ereignisse und Epen, ich liebe Mythen und die Abenteuer von El Corto Maltes, wahrscheinlich nichts Anderes, als das Übliche in der transkulturellen Fiktion, nach der ich mich bewege, wo das politisch Korrekte ständig an seine Grenzen stößt und sich tagtäglich die Sprache ändert. Von Borges weiß ich, dass Alles einen heimlichen Grund des Daseins hat: Mystisch und oft umfassend. Man schreibt, weil man es machen muss. Ohne wenn und aber und ohne eine goldene Zukunft. Meine Heimat ist in erster Linie die meines natürlich entstandenen Glaubens, ziemlich egal in welcher Sprache.

bei lauter niemand

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